Aus der Werkstatt

Wochenrückblick KW09 / 2023

veröffentlicht: 04.03.2023 · Franziska Köppe | madiko

Zeichnung eines Bunsenbrenners mit Kolben an einem Stativ, Reagenzglas mit Setzling und ein Prisma als Symbole für eine wissenschaftliche Werkstatt / Wissensarbeiter:innen. Dazu der Titel Aus der Werkstatt 2023.

Die Themen der Woche: Vom Elfenbeinturm und rauer See – Wissenschaftskommunikation, Politik & konstruktiver Journalismus. Kulturelle Aneignung. Romantische Anziehungskraft in Zeiten des Patriarchats – und seine Auswirkungen auf den Lebensentwurf und unsere Vorstellungen von Lebenserfolg.

Aus der Werkstatt 2023
[ 2023 Franziska Köppe | madiko ]

Letzte Woche schrieb ich noch, ich sei müde und wenig produktiv gewesen. Leider stellte ich diese Woche fest: Das waren nur die Vorboten. Uff. Kalenderwoche Neun 2023 trägt den Titel: “Rien ne va plus”. Nichts geht mehr. Eine Redewendung, die sich in meinem Leben eingenistet und verselbständigt hat.

In seiner ursprünglichen Bedeutung markiert es den Moment, ab dem keine Wette mehr auf dem Tableau eines Roulette platziert werden kann. Roulette war eines der Spiele meiner Kindheit. Ich übernahm in der Regel die Rolle des Croupiers. Das Drehen des Rads und Rollen der Kugel in der Cuvette. Ich mochte das Geräusch, das dabei entstand. Dann das Luft-Anhalten der Spielenden kurz bevor die Kugel im Nummernfach zur Ruhe kam. Das Beobachten der Eruption der Emotionen der Glücksspieler:innen beim Gewinnen und Verlieren. Glücksspiel als Teilnehmende ist übrigens etwas, das ich nie nachvollziehen konnte und bis heute nicht kann. Das ist besser so. Damals als Croupier jedenfalls konnte ich noch gut Kopfrechnen, um die Wettergebnisse des Glücksspiels zu verkünden. Wetteinsatz mal 17 (Cheval)? Kein Problem. Wetteinsatz mal 35 (Plein)? Klaro. Noch die Verluste abziehen? Es fiel mir zu. Ich war wirklich gut darin. Lang lang ist’s her…

Heute beschreibe ich mit “rien ne va plus” zumeist meinen Gemütszustand, wenn mein Gehirn sagt: Gib mir mal ‘ne Pause vom Denken. Du siehst es hier direkt: Ich bringe derzeit keinen klaren Gedanken zustande. Also zumindest nicht so, wie ich es von mir gewohnt bin. Ich mäandere von einem zum anderen, und verliere mich darin. War das alles wichtig, das aufzuschreiben? Springe ich in meinen Gedanken und verliere Dich als Leser:in auf halbem Weg? Wo war ich noch gleich? Was wollte ich zum Ausdruck bringen? Das ist mehr als irritierend.

Also tat ich, was ich für diese Situationen gelernt habe zu tun: Ich nahm mir eine Pause. Keine Podcasts. Kein Fachbuch. Kein Büro. Um all dies machte ich einen großen Bogen. Von Tag zu Tag prüfte ich, ob ich wieder einsteigen konnte. Nein? Ging nicht? Na gut. Also schaute ich Filme, viele Filme. Und Serien in Spielfilm-Länge. Überraschend: Es waren zahlreiche gute dabei. Immerhin. Ich schlief. Ich aß. Ich trank. Ich verkroch mich ins Bett und machte alle Schotten dicht. Ich mutierte zum Einsiedlerkrebs. Vermutlich hatte ich mir in den letzten Wochen zu viel zugemutet. Werde ich jemals lernen, die Extreme besser auszubalancieren?

Mithin heute also keine Reflexion der Arbeit aus der eigenen Werkstatt. Stattdessen biete ich ein paar lesens- und hörenswerte Tipps. Ich wünsche viel Inspiration und den ein oder anderen Widerstand beim Erkunden:

Vom Elfenbeinturm
auf die öffentliche Bühne

Sprachwissenschaftler:innen erforschen den Sprachgebrauch in Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Als anwendungsbezogene Forschung interessiert sie Sprache als soziales Handeln. Sie untersuchen die Folgen für die Meinungsbildung und den zwischenmenschlichen Zusammenhalt. Linguist:innen der TU Darmstadt und der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg analysierten den öffentlichen Diskurs in Zeiten der Pandemie COVID-19. Die Ergebnisse der empirischen Studie zeigen, welchen Herausforderungen sich die Forschenden stellen mussten, wie Politik und Wissenschaft miteinander rangen und welchen Einfluss Medien auf die öffentliche Wahrnehmung hatten. Sie leiten daraus Konsequenzen für zukünftige massen-mediale WissKomm (zum Beispiel im Hinblick auf den Klima-Notstand) ab. Nebenan fasse ich die Erkenntnisse aus der Studie zusammen: “Vom Elfenbeinturm auf die öffentliche Bühne – WissenschaftsKommunikation im öffentlichen Diskurs zwischen Politik & konstrumktivem Journalismus.

Kulturelle Aneignung

In letzter Zeit wird häufiger über kulturelle Aneignung diskutiert. Ich gehöre zu den Vertreter:innen, die Kultur als ist bezeichnen. Sobald Menschen aufeinandertreffen, bringen sie ihre Schichten an Werten, Einstellungen, Grundhaltungen (= Innerstes), an Verhaltensweisen und Methoden (= mittlere Schichten) wie an Symbolen, Artefakten, Insignien wie auch Sprache (= äußere Schichten und Ausdrucksformen) dieser Kultur(en) mit. Mit jeder Interaktion remixen wir Kultur. Wir geben ihr Sinn und Bedeutung. Vieles ist uns nur wenig bewusst. Wir saugen es alltäglich auf und sind geprägt von unserer Sozialisierung. Hin und wieder benötigen wir Übersetzungen. Geboren in Thüringen/Sachsen spüre ich das heute noch zuweilen hier unter Schwaben in Baden-Württemberg. Oder wenn ich wandle zwischen den Welten von Ingenieur:innen, Handwerkerinnen, Musiker:innen, Vertreter:innen von Wohlfahrtsbetrieben oder Social Business. Die Kulturen könnten zum Teil nicht unterschiedlicher sein – und dabei übertrat ich nicht einmal Landesgrenzen. Insofern halte ich es für wünschenswert, wenn wir offen sind für unsere Umgebung. Wenn wir neugierig der Interkulturalität begegnen. Wenn wir uns nicht einschachteln und verschanzen hinter “Leitkultur”. Wenn wir gleichwohl nicht alles in Wert bemessen und womöglich gar ein Preisschild anhängen.

Doch was ist kulturelle Aneignung? Wann verwandelt sie sich in etwas nicht erwünschtes? Für mich entsteht die Grenze, wenn ich den Respekt und die Wertschätzung vor dem Gegenüber verliere. Wenn ich identitätsstiftende Kultur-Bestandteile aus Profitgier ausbeute. Im Kleinen können wir das beobachten, wenn Begriffe wie “Nachhaltigkeit”, “Achtsamkeit” oder “Agilität” kommerzialisiert und ausgehöhlt werden. Wenn den Pionieren dieser Werte und Kultur der Boden der Verständigung für ihre Terminologie entzogen wird, um damit Profit zu generieren. Das ist Übervorteilung. Wenn Kulturschätze Afrikas nach Europa gebracht und als Trophäe in Museen, Zoos und Ausstellungen zur Schau gestellt werden. Das ist Kolonialisierung. Wenn kulturelle Artefakte als Kunst gehandelt werden, ohne dass ihre Kreativen dafür angemessen honoriert werden – oder schlimmstenfalls nicht einmal über diesen Verkaufsprozess selbstbestimmt entscheiden können. Das ist Gewalt. Wenn Kultur aufgrund von ungleichen Machtverhältnissen ihren Ureinwohnern entzogen und meistbietend verhökert wird. Das ist Ausbeutung. So geschehen beispielsweise als Blues und Gospel von Sun Records zwar produziert, jedoch neben Elvis keine “schwarzen Musiker” auf der Bühne stehen durften. Elvis untergrub die Vorgaben des Plattenlabels, indem er seinen Freunden von seinem Reichtum abgab. Sicher nicht so viel, wie er hätte sollen. Doch ein Zeichen des Honorierens setzte er ihnen. Das Jazz-Quartett rund um Dave Brubeck setzte sich im Übrigen komplett über die Vorgaben der Fernsehstudios hinweg. Sie sorgten dafür, dass Bassist Eugene Wright im Bild zu sehen war. Wie die Kameraleute Michel Brouwers und Marcel Therssen mit den vier Musikern ringen, sieht man beispielsweise an der Aufnahme von “Take Five” aus dem Jahr 1964:

Take Five
[ Live in Belgien 1964 Tori Chitic | 7'24'' ]

Die Nuancen von gewünschtem, bereicherndem interkulturellem Remix und Ausbeutung sind fließend. Wir Weißen aus dem globalen Nord-Westen haben uns da nicht mit Ruhm bekleckert. In unserem Bestreben, uns die ganze Welt zu erobern, übersahen (und übersehen) wir die Kostbarkeiten der indigenen Völker. Menschen, die uns mit offenen Armen empfangen und denen wir schleichend oder auch rabiat ihre kulturelle Identität nehmen. Wenn wir sie nicht als eigenständig und erhaltenswert erachten, vielleicht gerade, wenn sie nicht kapitalistisch, sondern naturverbunden und im Einklang mit den planetaren Grenzen entwickelt und gepflegt wird. Dazwischen, das ist Völkerverständigung in einer Weltengemeinschaft. Im Gegenteil: Davon könnten wir lernen. Ein Schritt ist dabei, uns unser Weltbild in Sachen Eigentum, Gemeingütern und Verantwortung bewusst zu werden. Es ist der erste Schritt.

Wer sich mit dem Themenkomplex weiter auseinandersetzen und die eigene Weltanschauung hinterfragen möchte, dem seien folgende Podcasts und Videos empfohlen:

Via SozioPod unterhalten sich Patrick Breitenbach und Nils Köbel über die Ethik im Kontext kultureller Aneignung.

Im DenkDuett erkunden Krisha Kops und Ines Maria Eckermann den Kulturbegriff, Raubkunst und die Rückgabe von Kulturgütern.

Nie wieder Winnetou? In der “Sternstunde Philosophie” steht kulturelle Aneignung ebenso im Fokus. Es unterhalten sich Mithu Sanyal, Kulturwissenschaftlerin und Autorin von “Identitti”, Jens Balzer, Autor von “Ethik der Appropriation”, Barbara Bleisch und Wolfram Eilenberger.

Eine überraschende Wendung erhält das Thema bei Krauthausen Face-To-Face, wenn Raul mit Laura M. Schengber, Dolmetscherin für Deutsche Gebärdensprache, über kulturelle Aneignung spricht.

Romantische Anziehungskraft
in Zeiten des Patriarchats

Ich las kürzlich Romantische Anziehungskraft in Zeiten des Patriarchats. Das solltest Du auch tun. Meike Stoverock dröselt biologische und kulturelle Einflüsse auf unser Liebesleben und unsere Erwartungen an selbiges auseinander. Sehr lesenswert und eine Einladung das eigene Welt- und Menschenbild zu hinterfragen.

Patriarchale Strukturen zu erkennen, ist nicht immer leicht. Die patriarchale, von Männern für Männer gemachte Zivilisation ist die einzige, die wir kennen, und folglich empfinden wir alle Gegebenheiten um uns herum, die Organisation der Gesellschaft, als normal. […]

Wir hinterfragen die Existenz von Lohnarbeit, Religion, Familie und Privathaushalt nicht, weil das alles so tief in uns verankert ist, dass wir nicht auf die Idee kommen, diese Dinge könnten patriarchale Strukturen sein. Und mehr noch: Wir hinterfragen sie nicht nur nicht, sondern entwickeln selbst den Wunsch, in diesen patriarchalen Strukturen zu leben.

Wir streben nach Macht und Besitz, wollen Karriere machen – und sehnen uns nach der romantischen Zweierbeziehung, die möglichst lange, am besten ein Leben lang halten soll. Ich nenne diese Blindheit für die Einseitigkeit der Welt die männliche Brille. Wir betrachten alles um uns her durch eine männliche Perspektive und richten daran unsere eigenen Leben aus.

Meike Stoverock

Was Meike anschließend auseinanderklamüsert, ist ein Augenöffner. Ferner merke ich mir ihr Buch “Female Choice – Vom Anfang und Ende der männlichen Zivilisation” (Klett Kotta) für die WandelMut LeseLust vor. Ich denke da weiter draufrum und suche meinen eigenen Weg.

Zuguterletzt

Es ist Zeit, Deine Kopfhörer zu greifen. Marvin veröffentlichte vorletzte Woche sein neuestes Cover von Avi Kaplan. Wow!!! Musikalisch – angefangen vom Arrangement über Exekution mit so vielen Registern (C#2 in Bruststimme bis F#4 Kopfstimme), Beatboxing, Body-Percussion. Dann das ganze Drumherum: Aufnahme im Home-Studio, Video, Schnitt, Post-Produktion. Achte vor allem mal aufs Stereo-Sound-Design mit Steuerung, von wo aus die Stimmen erklingen. Ein absolutes Meisterwerk.

Das Original von Avi ist direkter und seine Klang crisp im Vergleich zu Marvin. Meine Vermutung ist, dass beim Upload via YouTube Bandbreite verloren ging und vom Algorithmus gekappt wurde. Es wirkt bei Marvin flacher. Wäre interessant, die Original-Aufnahme zu hören.

Ich kann nicht sagen, welche Version mir letztlich besser gefällt. Beide Interpretationen sind beeindruckend und bringen etwas eigenes zu einem groovingen Song.

When the rain is all I see
And the black clouds coming for me
Thunder roll got me on my knees
But then I’m back on my feet no stopping

Ain’t nothing gonna take my fire
Ain’t nothing gonna crush my soul
Nobody gonna make me a liar
Gonna get up if I get down low

Get down, I get down
But I keep on climbing honey
Get down, I get down
But I keep on climbing up

Don’t matter if the wolves start calling
Don’t matter how much I’m falling
Yeah I get down, I get down
But I keep on climbing up

Walking on these weary bones
Stepping down that lonely road
Every bend I’m a getting close
To the end of my rope, but oh honey

Ain’t nothing gonna take my fire
Ain’t nothing gonna crush my soul
Nobody gonna make me a liar
Gonna get up if I get down low

Get down, I get down
But I keep on climbing honey
Get down, I get down
But I keep on climbing up

Don’t matter if the wolves start calling
Don’t matter how much I’m falling
Yeah I get down, I get down
But I keep on climbing up

Avi Kaplan

Quelle: Get down

Soweit für heute! Bleib neugierig,
Franziska (handschriftliche Signatur)

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Ausblick & Flurfunk

Meine Berichte aus der Werkstatt erscheinen unregelmäßig. Ich strebe an, alle ein, zwei Wochen von meiner Arbeit und dem, was mich beschäftigt, zu erzählen. Meine Erkenntnisse und Einsichten zu teilen.

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