Seid umschlungen, Millionen!

Tag der Deutschen Einheit 2019 – 30 Jahre seit der Wende

veröffentlicht: 03.10.2019 · Franziska Köppe | madiko

Schwarz-Rot-Gold der Deutschland-Flagge

An einem Tag wie diesem darf sie nicht fehlen: Beethovens 9. Sinfonie in d-Moll op. 125. Für mich ist sie die Hymne eines großen Umbruchs und der friedlichen Revolution von 1989, der Friedensbewegung, der Freiheit, des Humanismus und der Aufklärung. Es schwingen daher viele Emotionen und Erinnerungen mit, wenn ich diese Musik höre. Ich mag sie heute gar nicht in aller epischen Breite in Worte fassen, sondern schlicht dem Meisterwerk und dem Libretto von Schiller ihren Raum geben.

Farbkleckse Schwarz-Rot-Gold, die Deutschland Flagge symbolisierend
[ 2019-10-03 Franziska Köppe | madiko ]

Meine Lieblingsinterpretation der Sinfonie ist und bleibt vom Gewandhaus Orchester zusammen mit dem MDR Rundfunk-Chor unter der Leitung von Kurt Masur:

Besonders an der Interpretation gerade vom Gewandhausorchester und Kurt Masur ist für mich nicht nur die Art der musikalischen Auseinandersetzung und Umsetzung der Musik an sich – dazu gleich unten mehr – es ist zudem der geschichtliche Bezug. Sinfonie und Orchester waren meine “Heimat” zu Wendezeiten, meine Gemeinschaft der Friedensbewegung. In gewisser Weise war Kurt wie ein Papa und die Musiker*innen, mit denen ich mich anfreundete, wie eine Familie. Sie gaben mir die Kraft, mich gegen das übermächtig scheinende System der DDR zu stellen. In der Musik fand ich die Motivation und Energie für den eigenen Wandelmut, die Verbündeten, Gleichgesinnten und Freunde.

Mein Vater war Teil der Kampfgruppen. Nein, er gehörte nicht zu denen, die den Einsatz im Rahmen der Montagsdemonstrationen ablehnten. Vielmehr erinnere ich mich, wie er mir bewaffnet und in voller Montur gegenübersteht. Zeitgleich mache ich mich heimlich auf den Weg als Teil der Friedensbewegung. Ich bin das schwarze Schaf der Familie, muss meine eigene Gesinnung schon von Kind an vor ihnen verbergen. So finde ich Halt und Gleichgesinnte nur übers Orchester und das Theater. Stets inmitten der Freunde, da ich mit 14 eigentlich viel zu jung war. Ohne die Besonnenheit und Ruhe, die immer wieder von den Mitdemonstranten angemahnt wurden, ohne die Schweigeminuten und teilweise auch das gemeinsame Singen von Chören* – ich weiß nicht, wie es damals ausgegangen wäre…

[ * ] Ich meine tatsächlich den mehrstimmigen Gesang. Am Skandieren und einem Sprechgesang habe ich mich nicht beteiligt. Das war und ist mir suspekt.

Auch heute noch jagen mir große Demonstrationen und Menschenansammlungen zu einem gewissen Grad Angst ein. Die Erinnerungen sitzen tief. Und dann gibt es da “Freude schöner Götterfunken”, gesungen von allen mit Herzblut und aus Liebe zu den Menschen. Die Erleichterung der Beteiligten ist mit den Händen greifbar. Die Menschenmenge entspannt sich.

Ich liebe diese Sinfonie von der ersten Note bis zum fulminanten Finale. Leider sind die ersten 3 Sätze gar nicht so bekannt, wie ich zuweilen in meinem Bekanntenkreis feststelle. Schlimmer noch: Zu oft werden Soli und Chor durch viel zu viel Vibrato verhunzt. Das tut mir in der Musiker-Seele besonders weh. Was ich an der Interpretation unter Kurt Masur so mag, ist die Schlichtheit und dadurch viel wirkungsvollere Emotion der Musik. Mal ganz davon abgesehen, dass man hier den Text versteht. Großartig!

Apropos Text. Schauen wir uns das Libretto von Friedrich Schiller genauer an, die Beethoven zu diesem Werk inspirierten. Rufen wir uns dann noch in Erinnerung, dass er zum Zeitpunkt des Komponierens bereits vollständig taub war, ist das eine unvorstellbare Leistung. Er hat die Musik in seinem Kopf – nie aber über seine Ohren gehört. Was für ein Genie!

Ode “An die Freude”

O Freunde, nicht diese Töne!
Sondern laßt uns angenehmere
anstimmen und freudenvollere.

Freude! Freude!

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum!
Deine Zauber binden wieder
Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.

Wem der große Wurf gelungen,
Eines Freundes Freund zu sein;
Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!

Ja, wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer’s nie gekonnt, der stehle
Weinend sich aus diesem Bund!

Freude trinken alle Wesen
An den Brüsten der Natur;
Alle Guten, alle Bösen
Folgen ihrer Rosenspur.

Küsse gab sie uns und Reben,
Einen Freund, geprüft im Tod;
Wollust ward dem Wurm gegeben,
Und der Cherub steht vor Gott.

Froh, wie seine Sonnen fliegen
Durch des Himmels prächt’gen Plan,
Laufet, Brüder, eure Bahn,
Freudig, wie ein Held zum Siegen.

Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuss der ganzen Welt!
Brüder, überm Sternenzelt
Muss ein lieber Vater wohnen.
Ihr stürzt nieder, Millionen?
Ahnest du den Schöpfer, Welt?
Such’ ihn überm Sternenzelt!
Über Sternen muss er wohnen.

Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuss der ganzen Welt!
Brüder, überm Sternenzelt
Muss ein lieber Vater wohnen.
Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuss der ganzen Welt!
Freude, schöner Götterfunken
Tochter aus Elysium,
Freude, schöner Götterfunken, Götterfunken.

Meine Liebe für Beethoven hat wohl Oma Traudel (Großmutter väterlicherseits und lebte bis Ende August 1989 in Leipzig) in mir geweckt. So kenne ich alle 9 Sinfonien, Konzerte und kammermusikalischen Werke seit meiner frühesten Kindheit. Es vergeht keine Woche, in der ich nicht mindestens eine der Sinfonien oder eines der Konzerte höre. Man könnte also guten Gewissens behaupten, ich kenne sie in- und auswendig. Bis auf die 2., 8. und 9. Sinfonie sogar aus eigenem Spielerleben als Geigerin. Die 9. zumindest als Teil des Chors und Sängerin. Und auch an die Quartette habe ich mich gemeinsam mit Freunden gewagt.

So entdeckte ich eine gewisse Freude daran, verschiedene Interpretationen der Neunten aufzustöbern und mich mit ihnen zu beschäftigen. Hier eine kleine Auswahl aus meinem Fundus. Viel Spaß beim Reinhören und Erleben:

Fangen wir mit einer alten Aufnahme von Kurt Masur und der Staatskapelle Berlin aus dem Jahr 1970 an. Beethoven verlangt eine sehr hohe Präzision im Zusammenspiel aller Musiker. Das ist gar nicht so einfach, und soll doch einfach aussehen und klingen! Um dies zu erreichen braucht der Dirigent präzise Klarheit und ein aufmerksames, untereinander aktiv kommunizierendes Orchester. Vergleichen wir beide Aufnahmen – die von oben und die folgende, ist sehr schön zu beobachten, wie sich Kurt Masur im Dirigat weiterentwickelt hat – und sich doch bezüglich der Interpretation, dem Ausdruck und der Tempi, treu geblieben ist:

Eine weitere meiner Lieblingsaufnahmen ist die Interpretation Beethovens Neunter von der Staatskapelle Dresden zusammen mit dem Rundfunkchor Leipzig und dem Chor der Staatsoper Dresden unter der Leitung von Herbert Blomstedt. Auch hier finden wir die schlichte Eleganz und kraftvolle Energie, die ich so mag:

Wer die flotten Tempi der bisherigen Aufnahmen mag, wird zunächst bei der Interpretation der Münchner Philharmoniker zusammen mit dem Philharmonischen Chor München irritiert sein. Für seine langsamen Tempi bekannt, gelingt es Celibidache jedoch das Filigrane, das Ineinandergreifen und die Vielschichtigkeit der Klangteppiche besonders gut herauszuarbeiten. Ich bewundere hier vor allem die Bläser für ihren Atem und die Klarheit und Schönheit ihrer Töne. Das ganze Orchester weiß das volle Klangspektrum zwischen konzertant, leise und voluminös, kraftvoll komplett auszuspielen. Sehr beeindruckend:

Und wie klingt die Sinfonie heute? Sehr schön ist die Aufnahme der Neunten vom hr-Sinfonie­orchester zusammen mit dem MDR Rundfunkchor unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada. Das Orchester ist grandios. Ein großes Lob an das Film-Team, dem es gelungen ist, einen Teil dieser von mir oben angesprochenen Kommunikation der Musiker untereinander, einzufangen — zum Beispiel diese Stelle beginnend mit der ersten Bratsche, was sich dann durch’s ganze Orchester weiter fortsetzt (danach z. B. Pauke – ebenfalls im Bild). Ich wünschte nur inständig, die Solisten und der Chor würden weniger Vibrato machen. Insbesondere die Fuge ist grausig anzuhören. Und das, wo der Bass so schön begonnen hatte. Sehr schade! Doch das sind nur wenige Takte im 4. Satz. In Summe also: Einfach großartig!

Wenn Du nun richtig Lust auf die Sinfonie bekommen hast und noch tiefer einsteigen möchtest, empfehle ich die Interpretation dieses Meisterwerks vom Concertgebouw Amsterdam. Iván Fischer, einer der besten Dirigenten unserer Zeit, studierte das Werk mit den Musikern ein und kommentiert dann Komposition und Aufnahme:

Bleib neugierig,

Für den Fall, dass Dich meine Klassik-Sammlung interessiert,
hier meine YouTube-Playlist: Kreative Pausen: Klassische Musik.

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