Aus der Werkstatt
Wochen-Rückblick 2025-27
veröffentlicht: 05.07.2025 · Franziska Köppe | madiko
aktualisiert: 22.07.2025 · Franziska Köppe | madiko

Aus der Werkstatt 2025
[ 2025 Franziska Köppe | madiko ]
Es ist Samstag. Ausgeschlafen und wohlig erholt fühle ich mich. In Reichweite steht eine Latte macchiato. Ich bin angenehm mitteilsam. Ein ruhiger Strom an Gedanken, dem ich bereitwillig nachgebe. Im Plauderton mit langen Denk-Pausen kommt er daher. Keine Flut, die permanent neu geordnet werden muss, wie sie mich die letzten Monate plagte. Ich skizziere die Chronik meines Lebens. Perfekt muss es nicht werden. Voll-umfänglich auch nicht. Eher ein Mäandern und die Nase in den Wind halten. Pausieren. Innehalten. Ich lasse mich von Einfällen und Erkenntnissen überraschen. Schaue, was davon hängen bleibt. Innerlich ausgeglichen zu sein, ist wunderbar. Was lässt mich zu dieser lang ersehnten Ruhe kommen? Was bewegt mich – ohne mich aufzuwühlen? Welche Kante hat sich abgeschliffen? Was ließ ich die letzten Tage los? Bitte fühle Dich auf diesen Spaziergang eingeladen und begleite mich ein Stück des Weges. Wohlan!
Die Kulisse
Mein Blick schweift über die Halbhöhenlage. Sattes Grün in der morgendlichen Sonne. Dazwischen leuchten in Weiß und Ocker die Villen der betuchten Gesellschaft, in deren Nachbarschaft ich wohne. Die Gärten im Hinterhof üppig, wenngleich die Wiesen erste Anzeichen der anhaltenden Dürre zeigen.
BüroFensterBlicke: Das Lehen im Morgenlicht eines Sommer-Tages
[ 2025-07-05 Franziska Köppe | madiko ]
Bürofensterblicke: Lehen im Morgen-Licht
[ 2025-07-05 Franziska Koeppe | madiko ]
Viele Mauersegler schwärmen und umhüllen mich mit der für das Lehen so typischen, sommerlichen Geräusch-Kulisse. Ergänzt vom Gesang der verliebten Amseln, Meisen, Krähen, Schwalben. Über allem schwebt ein Bussard – was die Schar in Aufruhr versetzt, indes von ihrem Ballett nicht abhält. In knapp dreißig Minuten werden sie unvermittelt verstummen. Erst in der goldenen Stunde fliegen sie von Neuem aus ihren schattigen Verstecken aus. Sie jagen den Mücken, Fliegen und dem Getier der Lüfte nach. Balzen. Zeugen kleine Vögelchen. Bis die Dämmerung in die Nacht übergeht und schließlich Ruhe einkehrt.
Büro-Fenster-Blicke Juli 2025: Das Lehen im Morgen-Licht eines Sommer-Tages
[ 2025-07-05 Franziska Köppe | madiko ]
Wabernde Hitze
Der Himmel ist blau. Es bummeln einzelne Wölkchen darüber. Nach zwei kühleren Tagen kündigt sich ein Sommertag mit um die 30°C an. Die Woche davor war entsetzlich heiß mit Temperaturen um 37°C im Schatten. Bei mir im fünften Stock unterm Dach und Süd-Seite klettert das Thermometer 5+°C höher. Da half nur “Schotten dicht” und mich zurückziehen. Nachts kühlte es auf tropische 21°C ab. Franziska in eigenem Sud. Es wehte kaum Wind, der die aufgestaute Hitze und den Smog im Stuttgarter Kessel hätte vertreiben können. Immerhin kann ich hier quer-lüften und jede noch so kleine Brise nutzen.
Die erste Hitze-Welle des Jahres nahm ich als willkommene Einladung, mir frei zu nehmen. Mal nicht von morgens bis abends am Rechner sitzen. Nicht stundenlang Podcasts hören. Diese Juli-Woche fand ohne Fach-Literatur statt. Wissenschaften und Welt-Geschehen waren mir für ein paar Tage vollkommen egal. Ohnehin war ich rein körperlich nicht dazu in der Lage. Gegen meine Physis kämpfe ich nicht an. Ich achte auf das, was mir mein Körper sagt. Etwas, das ich in meinen Zwanzigern durch die erste gesundheitliche Krise lernte.
Dennoch liest sich das leichter, als es war. Zunächst konnte ich keine fünf Minuten still sitzen. Alle paar Stunden – mehr aus Gewohnheit – fuhr ich den Rechner hoch, öffnete Mastodon und LinkedIn, nur um den Browser direkt wieder zu schließen. Einige lustlose Klicks auf E-Mails. Ich melde mich von Newslettern ab, die ich schon ewig nicht mehr lese. Rechner aus. Angst, etwas zu verpassen, hatte ich nicht. Mir fiel schwer, mit mir selbst konfrontiert zu sein. Mich nicht dadurch abzulenken, dass ich permanent beschäftigt bin.
So schleppten sich die Stunden dahin. Alles war zäh, klebrig und viel zu heiß. Nach ein paar Tagen öffnete ich auf meinem Smartphone AntennaPod und schaltete alle automatischen Aktualisierungen aus. Damit startete ich eine neue Phase “Urlaub”. Später löschte ich in einem lichten Moment eine ganze Reihe Abonnements. Die Flut an Informationen drosseln und qualitativ aussieben. Ich besann mich auf den Kern dessen, was mir Sinn im Leben gibt. Dann fuhr ich das Handy herunter. Ja, das fühlt sich gut an. Aufatmen. Ausatmen. Etwas war entschieden, umgesetzt, verbessert in meinem Leben.
Schon im nächsten Moment war ich wieder hipfelig. Gefühle und Gedanken, widerstreitende Bedürfnisse – dieses Durcheinander war mir zu viel. Ich konnte nicht klar denken. Rammdösig ohne tiefen, erholsamen Schlaf war ich dem hilflos ausgeliefert. Hinzu brandete das schlechte Gewissen auf, produktiv sein zu wollen. Doch selbst mit größtem Bemühen ließen sich Arbeits-Ergebnisse schlicht nicht vorweisen. Irgendwann sah ich es ein. So eine Achterbahn-Fahrt ist anstrengend. So wollte ich das nicht mehr.
Also schaute ich Löcher in die Luft. Fünf Minuten. Pause. Zehn Minuten. Pause. Einen leckeren Salat aus regionalen Bio-Tomaten, Kidney-Bohnen, hand-gefischtem Thunfisch mit reichlich Pfeffer, einem Schuss Oliven-Öl und großzügig Basilikum mit Akribie zubereiten. Zum Essen etwas Musik. Nein, das war zu viel. Stille, ab und an Vögel-Zwitschern oder Meeres-Rauschen einschalten.
Mit der Zeit dehnte sich meine Entspannung aus. Indem ich mich vertrauensvoll meinem Körper überließ, verflogen allmählich die wirren wie auch die konstruktiven Gedanken. Das Planen und Abwägen der möglichen, der erwarteten und wünschenswerten Zukünfte konnte warten. Ich genoss es, die vom Wetter aufgegebene Ruhe in mein Innerstes wabern zu lassen.
Afrika in der Dose
Samstag Nachmittag, gerade kehre ich von einem kleinen Ausflug heim. Ich holte mir afrikanischen Roibush in meinem liebsten, britischen Tee-Laden. Zu Fuß sind es zirka zwanzig Minuten von hier. Der Laden liegt versteckt in einer Seiten-Gasse. Ein Union Jack dient als Werbung und lockt Lauf-Kundschaft wie Stamm-Kund:innen. Vier Stufen hinab sind es – leider also nicht barriere-frei – und ich stehe mitten im Lädchen.
Zu meiner Rechten ein Regal mit bunten Tee-Dosen, schräg gegenüber eines mit einer vielfältigen Auswahl biscuits. In der Mitte ein Tisch mit britischem Konfekt, Schürzen und Tisch-Decken. Im Neben-Zimmer werden Kannen, Tassen und Tee-Service aus England, Japan, Indien, Afrika und Süd-Amerika feil geboten. Mein rammdösiges Ich denkt bei Indien an Elefanten. Im Porzellan-Laden. Ich traue mich kaum, mich in diesem winzigen Raum ein Mal um die eigene Achse zu drehen. Doch das befürchtete Scheppern bleibt aus. Zurück im zentralen Stüble mir gegenüber die Haupt-Sache: Zwei Wände von oben bis unten mit Regalen, auf denen die bauchigen Dosen mit dem losen Tee stehen. Ein kurzes Aufschütteln. Dann Deckel öffnen und wir dürfen schnuppern. Dazu eine freundlich-zuvorkommende Beratung.
Heute ist ein Vater mit seinem Sohn da. Sie probieren verschiedene Tees – von Apfel-Ingwer-Orange-Pfeffer über Matcha bis zu Benifuuki. Geduldig erklärt Sabine, welchen Tee man kochen, wie am besten abkühlen und welchen direkt mit gekühltem Wasser ansetzen kann für vollen Geschmack. Der Junge kann kaum über den Tresen schauen. Umso mehr freut ihn, dass er selbstverständlich und wertschätzend in den Auswahl-Prozess einbezogen wird. Nach und nach verliert er seine Scheu, stellt Fragen und hört aufmerksam zu. Grinsend entscheidet er sich für den “giftig-grünen” (Benifuuki aus Japan) und sein Papa für den Früchte-Tee. Strahlend und stolz trollen sich die beiden und Sabine schaut mich erwartungsvoll an.
Mir ist nicht nach Experimenten. Sagte ich schon, dass mir zu heiß ist? Ich trinke momentan ohnehin am liebsten Roibush und halte ihr meine Dose hin. 150 g passen rein. Am Shortbread aus Edinburgh konnte ich leider nicht vorbei gehen. Es ist eine der letzten Packungen. Erst im Herbst – nach der Hitze – lohnt sich die neue Bestellung. Mit einem Ping springt die Kasse auf. Sabine erzählt mir, dass sie stark unter dem Brexit leiden. Jede Bestellung wägen sie klug ab. Im Original-Shop kosten 150 g Shortbread 4,10 GBP – was 4,75 EUR nach heutigem Währungskurs entspricht (05.07.2025). Ich zahle 9,90 EUR. Die Differenz sind Lieferung und Zölle. Einen kleinen Umsatz-Anteil brauchen sie für den Laden. Viel bleibt wohl nicht. Denn es sind natürlich stolze Preise. Gleichwohl die leckersten Kekse. Gefertigt in Handarbeit mit viel Liebe, und das schmeckt man. Ein kleiner Luxus für meinen Urlaub.
Auf Abenteuer-Reise in Afrika
Ein paar Tage später. Die brütende Hitze macht mich träge. Fünf Stockwerke runter und wieder hoch, da überlege ich zwei Mal. Aber der Junge das Mädel muss an die frische Luft. Gestern war es ein entspannter Spaziergang zur Bibliothek, der mich nach draußen und unter Leute brachte. Ich lese generell viel und mit Begeisterung. Im Urlaub und meiner Freizeit sind es Romane. So war ich “Fünf Wochen im Ballon” unterwegs mit Jules Verne.
Ich brauchte etliche Seiten, in die weit-schweifigen Erläuterungen der Reise-Vorbereitungen hineinzufinden. Jules Verne studierte für sein Erstlings-Werk “Cinq semaines en ballon” zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, Reise-Log-Bücher und Karten. All das stopft der 35-jährige in seinen Roman. Detail-verliebt breitet er das technische Wunder-Werk seines Titel-Helden aus. Er lässt Dr. Samuel Fergusson in endlos scheinenden Vorträgen seinem Freund Dick und seinem Diener Joe die Ingenieurs-Kunst herrklären. Er schwadroniert über die Expeditionen seiner Vorbilder. Er will die Forschungsreisen an Land mit der Reise aus der Luft verknüpfen und so den Beweis für die Quelle des Nils erbringen. Und dann geht die Reise endlich los. Ab hier wird der Erzähl-Strom flüssiger und lässt ahnen, welches Talent in Jules Verne schlummert.
Heute liest sich das 1863 verfasste Ballon-Abenteuer des Franzosen nicht ohne Irritation. Das Werk strotzt vor Rassismus und Kolonialismus. Vom Patriarchat will ich gar nicht erst anfangen. Als Zeit-Zeugnis der frühen Entdecker-Phasen unbekannten Terrains dennoch interessant. Jules Verne arbeitet den Wettstreit unter den Nationen heraus. Mit der Überheblichkeit der Imperialisten streben Männer aus Europa danach, die Welt forschend zu entdecken, wissenschaftlich zu entschlüsseln und sich zu unterwerfen. Sie glauben sich dabei in einem “natürlichen Recht”.
Ein Held, wer als Erster die Quelle des Nils und Boden-Schätze entdeckt. Oder – wie im vorliegenden Fall – der Erste sei, der den afrikanischen Kontinent von Ost nach West im selbst-gebauten Heißluft-Ballon überquert. Als besondere Ehre galt, in die Royal Geographical Society aufgenommen zu werden.
Ob die wissenschaftlichen Auszüge plausibel sind, kann ich nicht einschätzen. Dazu müsste ich einen Maschinen-Bauer oder eine Luft-Fahrt-Technikerin fragen. Die Konstruktion aus zwei Ballon-Hüllen scheint mir klever. Indes geht die äußere verloren bei einem Angriff von Geiern und die innere wird unter der brütenden Sonne Afrikas porös. Mit Freuden vermerke ich, dass die “Victoria” regenerative Energie nutzt. Die drei Abenteurer landen – wenn auch knapp – erfolgreich am Ziel.
Wir, die wir heute mithilfe von Sateliten-Bildern einen anderen Zugang zu Geographie haben, können uns hand-gemalte Karten und handschriftliche Reise-Berichte als einzige Orientierungs-Hilfe nicht vorstellen. Wir haben von Afrika, Asien, Amerika und Inseln im weiten Ozean zumindest schon mal gehört. Vielleicht eine journalistische Dokumentation gesehen. Unbekanntes Terrain erkunden, wird heute auf der Erde schwer. Wir Menschen sind in die letzten Winkel vorgedrungen. Auch wenn natürlich die Tiefsee und so weiter noch viele Rätsel für uns haben. Vor knapp 162 Jahren war das anders. Die Ausführlichkeit, mit der Jules Verne alles beschreibt, baut eine Brücke in die Ideen-Geschichte der Vergangenheit. Meteorologie-Fans und Freundinnen der Antropologie kommen voll auf ihre Kosten.
Gleichwohl laufen mir Schauer über den Rücken ob der Brutalität und Missachtung im Umgang mit den Einheimischen. Mir wird übel beim sinnlosen Jagen edler Tiere – nur aus einem sportlichen Reiz heraus, sie als Trophäe zu erschießen… Ich bin froh, dass die Gesellschaft sich weiter-entwickelt und viele der damaligen Ideale überwunden hat. Ich bin mir bewusst, dass wir heute neue Formen von Kolonialismus, Ausbeutung und Verachtung entwickelt haben. Mit Lesen des Erstlings-Werks treten mir dennoch deutlich die gesellschaftlichen Entwicklungen zu Tage. Ich fühle mich an “Factfulness” von Hans Rosling erinnert.
“Fünf Wochen im Ballon” bleibt mir zäh bis zum Schluss. Weglegen konnte ich das Buch aber auch nicht. Ich wollte dann doch wissen, was aus Luft-Fahrt-Ingenieur und Abenteurer Dr. Samuel Fergusson, seinem schottischen Freund Dick Kennedy (nur unter großer Überzeugungsarbeit zur Mitreise überredet) und seinem treuen, aufopferungs-bereiten Diener Joseph (Joe) Wilson wird.
Ich springe in der Biographie Jule Vernes jetzt eine Dekade weiter und lese “In 80 Tagen um die Welt”. Das Werk kenne ich in- und auswendig aus Filmen. Mal schauen, ob es mich als Buch noch einmal fesseln kann. In jedem Fall hat sich Jules Verne schriftstellerisch weiter-entwickelt. Weniger Erklärbär, mehr Geschichten-Erzähler. Und das von der ersten Seite an.
Bildung
Perspektiv-Wechsel einer Reise
Ich erzählte noch gar nicht, welche Bücher ich mir aus der Bibliothek holte: “Alles nicht echt” von Christine Lehmann. Darauf komme ich vielleicht in einem zukünftigen Werkstatt-Bericht zurück. Und “Ein deutsches Klassen-Zimmer” von Jan Kammann (Piper, 2018).
Auf Jan wurde ich aufmerksam durch den Podcast “Die Schule brennt – Warum ich in die Herkunftsländer meiner Schüler:innen gereist bin”. Bob Blume unterhält sich mit dem Gymnasial-Lehrer über sein Sabbat-Jahr 2016 und wie sich sein Blick auf die Welt und die Menschen verändert hat. Ein sehr hörenswertes Gespräch über Bildung, Migration und die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen.
Jan unterrichtet Englisch und Geographie in einer internationalen Vorbereitungs-Klasse (Europa-Schule) in Hamburg. Seine Schüler:innen haben Wurzeln in Spanien, Italien, Kroatien, Mazedonien, Albanien, Kosovo, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Polen, Ukraine, Russland, Armenien, Iran, Afghanistan, Ghana, Südkorea, Nicaragua, Kolumbien, Serbien, Kasachstan und Deutschland. Am Ende der Schul-Ferien im Herbst 2016, setzt er sich in einen Bus nach Bulgarien. Doch anstatt wie erwartet auf die Autobahn einzubiegen, tingelt er von einem Dorf zum anderen. Ernte-Helfer:innen steigen zu. Munter schwatzen sie durcheinander. Euphorie auf dem Weg in die Heimat macht sich breit. Doch die Fahrt ist lang. So ist Jan direkt hinein geworfen in die Lebens-Realität von Saison-Arbeiter:innen. Auf diese Reise nimmt er uns mit.
Es ist kein Roman zum “runterlesen”. Ich brauche Pausen. Ab und an stoße ich mich an Formulierungen. In den letzten zehn Jahren lernte ich sprachlich und inter-kulturell dazu. Bewusst entscheide ich mich, auch Jan diese Reflektion und den Perspektiv-Wechsel zuzugestehen. Mir imponiert, wie offen er seine Gedanken, Empfindungen und Erlebnisse ausführt. Das macht ihn sympathisch und stärkt den Eindruck, den ich aus dem Gespräch mit Bob gewonnen hatte.
Noch zwei Wochen habe ich Zeit, mich durchs Werk zu lesen. Mal schauen, wie weit ich komme. Ein Buch, das ich nicht “auslesen” muss. Auch mal schön.
Loslassen
... und mein Umgang mit Angst vor der Angst
Mit dem Lesen von Romanen – das ich mit Freizeit in Verbindung bringe – stellt sich das lang ersehnte Gefühl von Urlaub ein. Ich lerne loszulassen. Das schlechte Gewissen klingt ab und ich genieße die freie Zeit. Am Schönsten empfinde ich, dass ich diesen Drang loswerde, mich ständig mit irgendetwas beschäftigen, etwas “Sinnvolles” tun, etwas lernen oder auch nur “auf dem Laufenden bleiben” zu müssen. Die bleierne Müdigkeit schwindet. Ich finde zu neuer Energie. Entspannt sitze ich für zehn und schrittweise mehr Minuten da und träume. Möge mir gelingen, mir das für die Zukunft zu erhalten durch regelmäßiges Üben. Was bedeutet, meine Arbeitslast generell zu reduzieren. Schließlich weiß ich, dass viel nicht viel hilft und die Leistung sinkt.
Dies führt mich zu einem Bild, das mich seit einigen Wochen nicht loslässt. Es geht um den Umgang mit Widerständen – eigenen und fremden. Ich brauche einen kleinen Umweg, um es teilen zu können. Ich drösel meine Gedanken so weit auf, wie ich das Knäul bereits entwirren und einen roten Faden finden kann. Es ist im Prozess. Das Schreiben soll mir dabei helfen, mich und die Welt besser zu verstehen. Vielleicht kann es Dich inspirieren, über Dich nachzudenken und zu erspüren, wie das bei Dir ist. Dann hat dieser Text auch für Dich etwas Gutes.
Begegnung mit meiner Angst
Besonders drastisch hatte mich das Phänomen “Widerstand” eingeholt in Form von Angst. Glücklicherweise habe ich selten Angst, die mich in Panik versetzt. Mein Großvater brachte mir sehr früh bei, im Bedarfs-Fall die eigene Lage zu erfassen, sie einzuordnen und daraus mögliche Optionen abzuleiten, mich zu entscheiden und diese umzusetzen. Egal, ob wir beim Wandern vom geplanten Weg abgekommen waren, eine schwierige Suche nach einer Lösung anstand oder es um einen zwischen-menschlichen Konflikt ging. Rudi-bácsi hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, die eigenen Gefühle wahrzunehmen. Durchzuatmen, vielleicht auch einen Spaziergang zu unternehmen. Sie auf ein normales Maß abklingen zu lassen. Und dann mit Unterstützung des Kopfes, des Bauches und des Herzens die oben genannten Schritte abzulaufen, um weiterzukommen. Was für ein Geschenk. Ich weiß es erst heute so richtig zu schätzen. Er verhalf mir zu Selbständigkeit. Was ich viel später lernte: um Hilfe zu bitten. Ich komme auf die Schwierigkeit, die in diesem Widerspruch steckt noch einmal zurück.
Als Freiberuflerin ist mir die vertrauteste Form die Existenz-Angst. Sie äußert sich in der Sorge, die Rechnung für Telekommunikation am letzten Tag des Monats nicht zahlen zu können. Der Anbieter würde meinen Vertrag kündigen, die Leistung einstellen und ich wäre abgeschnitten vom Internet – dem Zentrum meines aktuellen Geschäfts. Es gab schon Monate, da ging es um einen Euro hin oder her. Ich kenne es, mich zwischen Gemüse zum Brot und der nächsten Lizenz-Gebühr für die Software zu entscheiden. Mir ist die Sorge nicht fremd, die Miete nicht mehr zahlen zu können, weil das Finanz-Amt mit einer Forderung ums Eck kommt, die sofort beglichen werden muss. Was letztlich aus der Angst herrührt, obdachlos zu werden. Gleichwohl weiß ich, dass in Deutschland Hilfe in der Not angeboten wird. Es muss viel passieren, dass sich dieser absolute Notfall nicht mehr verhindern lässt. Dennoch ist wirtschaftliche Armut real und es ist schwer, sich aus ihr zu befreien. Schlicht, weil wir finanzielle Sicherheit jeden Monat aufs Neue erkämpfen.
Ich kenne die ständige Sorge, durch Mangel an Geld soziale Kontakte zu verlieren und ausgeschlossen zu sein von gemeinsamen Aktivitäten. Unternimm spaßes-halber den Selbst-Versuch und verabrede Dich einen Monat lang mit anderen, stets ohne Geld auszugeben. Ohne Dich durchzuschnorren versteht sich. Du wirst merken: Das ist in unserer Gesellschaft nicht einfach. Ich empfehle Spazier-Gänge. Doch auch da hast Du oft eine gewisse Weg-Strecke zum Treffpunkt zurückzulegen. Du wirst viel zu Fuß und mit dem Rad unterwegs sein. Brauchst also möglicherweise mehr Zeit und hast einen kleineren Radius als mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem eigenen Fahrzeug.
In den fünfzehn Jahren, die ich nun selbständig bin, habe ich die Sorge um meine Existenz nie abschütteln können. Sicher auch, weil mir bisher noch nicht gelungen ist, eine dauerhafte Stabilität der wirtschaftlichen Lage hinzubekommen. Zu oft lebe ich von der Hand in den Mund. Immer wieder fange ich von vorn an, mir etwas aufzubauen. Ich arbeite daran, Geld gegen Zeit zu entkoppeln. Ein wichtiger Teil davon ist mein Lern-Prozess im Umgang mit Existenz-Angst. Also nicht dem vermeintlich schnellen Geld des Auftrags hinterherzulaufen, um die laufenden Kosten zu decken. Einmal-Leistung. Und dann wieder neu. Auf die Dauer ermüdet das. Zur Lösung gehört, ungünstige Verhaltensmuster zu erkennen und mit ihnen konstruktiv weiterzuarbeiten. Nicht die Nerven zu verlieren, an mich zu glauben und unermüdlich auf mein Ziel in meinem täglichen Tun einzuzahlen.
Stark sein und um Hilfe bitten
Nennen wir meine Existenz-Angst also die Grund-Last, die jede:r Freiberufler:in mit sich herumträgt. Wir kommen mal besser, mal schlechter damit zurecht. Offen darüber mit Selbständigen und Unternehmer:innen aus kleinen und mittleren Firmen zu reden, hilft im Übrigen. Gespräche mit Angestellten oder Beamten eher nicht. Sie leben in einer anderen Welt und können das weniger nachvollziehen, selbst wenn sie sich darum redlich bemühen.
Nun ereignete sich eine Situation, in der ich mit körperlicher und psychischer Gewalt konfrontiert war. Eine Person versuchte, in mein Refugium einzudringen. Es ist ihm nicht gelungen. Das hat mich jedoch gehörig erschrocken. So unschön dieses Erlebnis war, es hat mir eines gezeigt: Ich fand innerhalb kürzester Zeit (eine halbe Stunde) Unterstützung und Hilfe. Und das ist es, was ich hier als wichtigste Erfahrung notiere. Mein Sicherheitsnetz funktioniert. Durch diesen Vorfall konnte ich es ungewollt prüfen. Zu wissen, dass es mich trägt und zusätzliche Hilfe nahe ist, ist großartig. Dabei war etwas von mir verlangt, das mir enorm schwer fällt: Um Hilfe bitten.
Mein Ur-Impuls ist stets, alles “allein” zu schaffen. Ich tue dies nicht aus einer Überheblichkeit heraus, alles besser zu können. Weit gefehlt! Ich kenne meine Schwächen. Mir ist bewusst, dass ich beispielsweise für einiges deutlich länger brauche als andere, um eine für mich zufrieden-stellende Qualität zu erreichen. Jede:r hat ihre Talente und seine Kompetenzen. Für mich speist es sich vielmehr aus innerem Antrieb und Freiheitsdrang sowie aus dem Umstand, dass ich auf mich gestellt bin durch meine Lebens-Konstellation.
Auf andere Menschen zuzugehen und sie um Unterstützung zu bitten, fällt mir schwer. Ich ringe nach Worten, die ihnen mein Anliegen vermitteln und gleichzeitig signalisieren, dass sie NEIN sagen können. In meinem Kopf geht es komplex zu. Vereinfachen, aufs Wesentliche reduzieren – wo ich doch gerade selbst nicht weiß, wie weiter. Daran scheitere ich. Und natürlich nagt da der Gedanke, gemocht werden zu wollen und möglicherweise zur Last zu fallen. Ich wappne mich innerlich für eine Absage. Das macht die Sache nicht leichter, frei zu sprechen. Ich muss dafür all meinen Mut zusammen-nehmen.
Bei Lichte betrachtet, ist das natürlich Blödsinn. Tja nun. Angst ist irrational. Also erinnere ich mich daran: Menschen sind hilfsbereit. Begegne ich ihnen freundlich, werden sie mir wertschätzend antworten. Sie freuen sich, gebraucht zu werden und helfen, wenn sie können, gern. An dieser Balance knabbern wir wohl alle ein Leben lang. Vielleicht sollten wir mutiger werden, darüber zu reden.
Mit dem Wind, statt gegen ihn
Wenn ich Dir also offen davon erzähle, breche ich bewusst das Tabu unserer Gesellschaft. Angst ist ein emotionaler Zustand, gekennzeichnet durch Anspannung, Besorgtheit, Nervosität, innere Unruhe und Furcht vor zukünftigen Ereignissen. (Dorsch, Lexikon der Psychologie). Ich empfinde es als entlastend, wenn ich mit Profis darüber sprechen kann. Systemische Therapeuten sind in der Lage, professionell mit Angst und all dem anderen Wirrwarr in uns umzugehen. Sie sind darin geschult, mich in die Selbst-Wirksamkeit zu bringen. Sie geben mir die dafür nötige Zeit und den Raum.
Gerade letztes ist wichtig. Denn gegen Angst und innere Zerrissenheit gibt es keine schnellen Lösungen. Pille, Pflaster drauf und zurück in die Maschinerie der Leistungsgesellschaft? Nope. Es ist ein ständiger Prozess. Es gab eine Zeit, da hat mich das erschreckt. Nie fertig?! Nie gelöst? Heute finde ich es schön, dass wir bis an unser Lebensende an uns wachsen können. Es wird nie langweilig, wenn wir bereit sind, uns ins Herz zu schließen und uns den Herausforderungen des Lebens offen zu stellen.
In einem dieser Gespräche entdeckte ich an mir meine größte Angst. Es ist die Angst vor der Angst. Wir suchten also nach meinem Patronus gegen Dementoren. Über Metaphern unterschiedlichster Art und was sie mir bedeuten, fand ich schließlich zu meinem Bild. Das Bild ist so stark für mich, weil ich es im ganzen Körper fühlen kann (bereits in weiteren Krisen-Momenten erprobt). Nun habe ich Dich lang genug auf die Folter gespannt. Hier ist es:
Für mich ist das Umgehen mit Angst wie Segeln mit dem Wind. Ich arbeite nicht gegen das Natur-Schauspiel. Ich halte den Finger in die Luft und erfühle, woher der Wind kommt. Bei Sturm raffe ich zunächst die Segel. Versuche, im ersten Schritt wahrzunehmen, was ist – ohne direkt darauf zu reagieren. Ich orientiere mich. Ich lege die Navigation an. Was ist mein Ziel? Woher kommt der Widerstand – mein eigener und der von außen? Wo liegen die Kompromiss-Flächen, wo die Konflikt-Linien? In welcher Option sehe ich die besten Chancen für mich bzw. für uns? Und erst dann setze ich die Segel und lege die Pinne an. Statt mich am Widerstand abzumühen, arbeite ich mit dem Wind. Ich lasse mich auf die Situation ein und nutze sie. Im Ist-Ist-Abgleich steuere ich. Mein Vorhaben nimmt wieder Fahrt auf. Ich spüre die Kraft in den Segeln. Die Wellen am Bug. Ab und an erwischt mich die Gischt. An der Wasser-Oberfläche fliegen wir dahin. Die Natur will mir nichts Böses. Ich bin Teil von ihr.
Alle Nicht-Segler:innen sind jetzt vermutlich ausgestiegen. Pardon. Du wirst ohnehin Dein eigenes Bild finden müssen. Ich möchte Dir lediglich Mut machen und Dich inspirieren, Dich auf Deine eigene Reise zu begeben. Ich wünsche Dir stets eine Handbreit Wasser unterm Kiel beim Entdecken.
Zuguterletzt
In diesem Bericht aus der Werkstatt überstrapazierte ich das Narrativ der Reise. Dieser Fauxpas verlangt nach einer würdigen Auflösung und Versöhnung. Ein breites, glückliches Lächeln zauberten auf mein Gesicht: Max Raabe (Gesang), Cecilia Crisafulli (Violine) & das Palast Orchester. Es ist sechstes Lied auf ihrem Album “Mir ist so nach Dir”: “La mer”.
La mer
[ 2023-09-15 Max Raabe & Palast Orchester | 3'31'' ]
Adieu und bleib neugierig,

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